Lena Dürr hat auch in diesem Winter schon einige Podestplätze eingefahren. Doch zwei Topstars sind in der Regel besser unterwegs. Das will die WM-Dritte ändern.
Dass sie ein Loch in der Herzscheidewand zwischen den Herzkammern hat, merkt Lena Dürr eigentlich nur bei den regelmäßigen kardiologischen Untersuchungen. „Beim Herzultraschall kann ich den Herzfehler inzwischen hören. Ich habe den Eindruck, als faucht mein Herz sehr laut“, erzählte die Skirennfahrerin schmunzelnd: „Aber es ist alles in Ordnung.“ Der sogenannte Ventrikelseptumdefekt sei bei ihr als Baby festgestellt worden, er ist angeboren – aber kein großes Hindernis im Alltag und auch nicht im Leistungssport. „Gott sei Dank macht mir mein angeborener Herzfehler beim Sport keine Probleme. Ich bin zum Glück fit und rundum gesund“, verriet die 32-Jährige im vergangenen November bei der Gründung des Europäischen Kinderherzzentrums München. Dürr und ihre Teamkollegen vom Deutschen Skiverband (DSV) haben die Schirmherrschaft für die Spezial-Klinik für herzkranke Kinder übernommen. Bei der Eröffnung verriet Dürr, dass sie nur beim Anflug einer Erkältung vorsichtiger mit ihrem Körper agiere: „Dann schone ich mich rigoros.“
Herzfehler bereitet keine Probleme
Oft kam das in diesem Winter nicht vor, Deutschlands beste Slalomfahrerin konnte meist voll auf Angriff gehen. Und das tat die WM-Dritte bislang größtenteils mit Erfolg. Vier Podestplätze in den ersten sieben Rennen hat sie eingefahren: Platz zwei im slowenischen Kranjska Gora, die Plätze zwei und drei im finnischen Levi und zum Abschluss des Jahres 2023 nochmal Rang zwei im österreichischen Lienz. „Das beruhigt einen sehr zu sehen, dass wir definitiv auf dem richtigen Weg waren“, sagte Dürr zum erfolgreichen Saisonstart: „Am Anfang weiß man nie so genau, wo man steht. Da ist es umso schöner, dass man in den ersten Rennen gleich die Bestätigung bekommt: Okay, der Weg stimmt wieder.“
Beim Nachtslalom im österreichischen Flachau gab es Mitte Januar einen kleinen Rückschlag. Platz 15 war angesichts der starken Vorleistungen eine Enttäuschung. „Das war deutlich zu wenig“, zeigte sich die Athletin des SV Germering selbstkritisch: „Ich bin Kurven gefahren, wo keine waren.“ Doch so etwas passiere im Slalom schnell, meinte Dürr. Sie verglich das Skifahren einmal mit einem Puzzle: „Je mehr Teile zusammenpassen, desto klarer wird das Bild.“ In Flachau war das nicht der Fall gewesen. „Wenn irgendwo was nicht zusammenpasst, ist es schwierig für mich, den Schwung so zu fahren, wie ich ihn fahren will“, erklärte Dürr: „Heute hat anscheinend irgendwas gefehlt, was auch immer.“
Es reichte jedoch, um ihren dritten Rang in der Slalomwertung zu verteidigen. Dürrs Pech ist, dass sie zwei Topstars in ihrer Disziplin als Gegnerinnen hat, die auch in dieser Saison noch einen Tick besser zu sein scheinen: Die Slowakin Petra Vlhová und die US-Amerikanerin Mikaela Shiffrin hatten vor den Rennen im Riesenslalom und Slalom im slowakischen Jasna (20. und 21. Januar) drei beziehungsweise vier Siege auf ihren Konten. Für Ausnahmeathletin Shiffrin war der Triumph in Flachau vor Dauerrivalin Vlhová besonders emotional, im Zielbereich flossen sogar Tränen. Sie sei „mit dem Herzen“ bei ihrem Lebensgefährten Aleksander Aamodt Kilde im Krankenhaus gewesen, erklärte Shiffrin hinterher. Der norwegische Skirennfahrer war wenige Tage zuvor bei der legendären Lauberhorn-Abfahrt in Wengen schwer gestürzt und hatte sich eine Schulter ausgekugelt sowie eine Schnittwunde an der Wade zugezogen.
Doch Shiffrin hielt dem emotionalen Druck stand und führte dank ihres insgesamt 94. Weltcup-Sieges in der Gesamtwertung knapp vor Vlhová, die bei ihrem Heimrennen in Jasna zurückschlagen wollte. Und die Konkurrenz? „Es kann nicht sein, dass in den letzten sieben oder acht Jahren fast nur Petra oder Mikaela gewinnen“, sagte Vlhová-Trainer Mauro Pini und kritisierte: „Meiner Meinung nach pushen viele Trainer ihre Athletinnen zu wenig – sie sind zu brav, zu nett.“ Und seiner Meinung nach zu schnell zufrieden. „Viele sind überglücklich, wenn sie Dritte werden und auch noch sehr happy mit Platzierungen zwischen vier und sechs. Das mag im Einzelfall in Ordnung sein, jede hat eine andere Geschichte. Das Ziel sollte aber sein, ganz nach vorne zu kommen.“
Der große Erfolgsdruck ist weg
Dürr dürfte Pini mit seiner harschen Kritik nicht gemeint haben. Die beste deutsche Slalomfahrerin der vergangenen Jahre versucht schon lange, die Erfolgsära der Olympiasiegerinnen Vlhová und Shiffrin zu beenden. Natürlich hat auch Dürr ihre Lieblingsrennen, auf denen sie sich besonders wohl fühlt und schnell ist. Aber sie hat es mittlerweile geschafft, über fast den gesamten Winter hinweg eine Podest-Anwärterin in ihrer Spezialdisziplin zu sein. Dafür müsse sie „im Sommer fleißig arbeiten“, um dann im Winter „parat zu sein“. Alles andere – gerade die Performance von Vlhová und Shiffrin – könne sie ohnehin nicht beeinflussen. „Primär geht es bei mir darum, dass ich mich an Renntagen auf meine Aufgaben konzentriere und alles heraushole“, sagte Dürr: „Wo, wann und ob es dann für den Sieg reicht, wird sich zeigen.“
Der ganz große Erfolgsdruck ist seit dem Vorjahr ohnehin weg. Mit der Bronzemedaille bei der WM in Frankreich hat Dürr nicht nur ihren größten Einzelerfolg eingefahren, sondern auch ihr persönliches Olympia-Trauma verarbeitet. 2022 bei den Winterspielen in Peking lag die Bayerin im Slalomrennen nach dem ersten Lauf als Führende auf Goldkurs, am Ende verpasste sie das Podium aber um sieben Hundertstelsekunden. Kein Wunder, dass ihr mit der WM-Medaille um den Hals eine Menge Last abfiel. „Ich muss jetzt erst einmal weinen“, sagte sie während ihres Interview-Marathons: „Heute ist der Tag, an dem ich meine Hundertstel von Olympia im vergangenen Jahr zurückbekomme.“ Manche Sportler hätte das negative Erlebnis von Peking womöglich gebrochen – Dürr aber tickt anders. Sie denke mittlerweile „mit einem positiven Gefühl“ daran zurück, verriet sie glaubhaft: „Ich glaube, ich konnte von dem Tag viel lernen.“ Zum Beispiel, mit der größeren Erwartungshaltung besser umzugehen. Und mit den teils extremen Gefühlen, die der Sport bietet. „Von höchstem Hoch bis ins richtige Tief“ sei sie in Peking gefallen: „Aber das gehört dazu und ich bin dadurch gewachsen.“ Die WM-Bronzemedaille und auch das Olympia-Silber, das Dürr in Peking überraschend mit der Mannschaft gewann, sind für die Sportlerin entsprechend heilig. Sie dürfen nur von Leuten in die Hand genommen werden, „die damit auch zu tun hatten“, verriet Dürr: „Irgendwie glaube ich, dass das in diesem Kreis auch bleiben muss.“
Beim Deutschen Skiverband (DSV) ist man froh, dass auch in dieser Saison auf Dürr Verlass ist. Denn in den anderen Disziplinen ruckelt es genau wie im vergangenen Winter noch gewaltig. DSV-Alpinchef Wolfgang Maier nennt Dürr nicht umsonst eine „absolute Gewinnerin“. Seit drei Jahren ist es vor allem die Slalom-Spezialistin, die für den DSV am konstantesten in die Punkteränge und auf die Podestplätze rast. Dürr galt früh als ein Ausnahmetalent, nachdem sie vor vielen Jahren mal einen Parallelslalom im Weltcup für sich entscheiden konnte. Doch die Erwartungen konnte sie zunächst nicht erfüllen, kämpfte sich aber mit Willen und Ehrgeiz nach oben. Ihre Art, Ski zu fahren, ist deutlich weniger kraftvoll und aggressiv als die der slowakischen Olympiasiegerin Vlhová. Die Deutsche ist eher unspektakulär und ruhig unterwegs. Experten werten ihren Fahrstil oft als sehr effizient. Eine Allrounderin wie Vlhová oder Shiffrin ist sie aber nicht, Starts in anderen Disziplinen sind eher selten. Sich seit ein paar Jahren „hauptsächlich auf den Slalom und die Parallel Events zu konzentrieren, hat sich gelohnt“, begründete Dürr: „Im Training bin ich trotzdem noch viel auf den Riesenslalom-Ski unterwegs.“
Dürr braucht Abwechslung
Die großen Bausteine der Vorbereitung aus der erfolgreichen Vorsaison haben Dürr und ihre Trainer zwar übernommen. Doch die Athletin braucht auch immer Abwechslung, um sich mit Spaß und Ehrgeiz die Grundlagen zu erarbeiten. „Seit ich den Sport mache, ist kein Jahr gleich gewesen. Das wird glaube ich auch nie passieren, dass ich im selben Trott bleibe“, erzählte Dürr: „Man sucht sich immer neue Ideen und Übungen zum Beispiel im Konditionstraining.“ Skifahren sei „ein sehr komplexer Sport, jedes Jahr ist eine neue Herausforderung und der Lernprozess hört nie auf“. Das entspreche auch ihrer Persönlichkeit. Die ist sicherlich auch geprägt von ihrer Kindheit, in der sie und ihre Schwestern – angetrieben von den Eltern – einem sehr breit gestreuten Bewegungsangebot nachgegangen sind. „Wir haben viele verschiedene Sportarten ausprobiert, ich habe sogar mal ein Jahr Rhythmische Sportgymnastik gemacht“, verriet Dürr. Für sie als Bewegungstalent sei es auch der Schlüssel zum Erfolg, „dass man sich als Kind möglichst breit aufstellt, dass man das macht, was einem Spaß macht“. Auch beim Skitraining hätte sie als Kind nur wenig Tore fahren müssen, „der Spaß stand absolut im Vordergrund“.
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Dürr so gerne ins heimische Germering zurückkehrt. „Ich bin ein totaler Familienmensch, wir sind alle super gerne zusammen“, erzählte sie. Die Familienmitglieder seien mittlerweile zwar ziemlich zerstreut in Deutschland, „es ist selten, dass wir alle zusammentreffen. Aber wenn, dann ist es umso schöner und ich versuche so oft es geht in die Heimat zurückzukommen. Da kann ich meine Energie tanken“. Kraft, die sie für den Angriff auf Shiffrin und Vlhová braucht. Dazu benötigt sie sicher auch starke Nerven und etwas Glück, um in die Phalanx der Topstars einzugreifen. Doch wer sich von einem angeborenen Herzfehler nicht aufhalten lässt, der hat auch vor großen Namen keine Angst.