Spanische Forscher haben bei Tierversuchen spezielle Neuronen identifizieren können, die ursächlich für die Entwicklung von See- und Reisekrankheit sein könnten. Neue Therapieformen werden dadurch möglich.
Schon Hippokrates sagte, dass das Segeln auf dem Meer für Unordnung im menschlichen Körper sorgen könne. Natürlich konnte er die dabei im Organismus ablaufenden Phänomene damals noch nicht erklären. Auch heute hält die Kinetose, wie die Reisekrankheit oder Motion Sickness im medizinischen Fachjargon genannt wird, für die Forschung noch viele ungelöste Rätsel bereit.
Es gibt natürlich verschiedene Mutmaßungen, zum Beispiel die sogenannte Störsignal-Theorie. Demnach entsteht die Reisekrankheit, von der Kinder und Frauen häufiger betroffen sind als Männer, durch einen Konflikt zwischen verschiedenen Sinnes-Signalen: Die Wahrnehmung der Augen passt nicht mit den Signalen anderer Sinnesorgane zusammen, vor allem des im Ohr sitzenden Gleichgewichtsorgans oder auch des sogenannten propriozeptiven Systems, mit dessen Hilfe das Gehirn Haltung, Bewegung oder Lage des Körpers und seiner Gliedmaßen verarbeitet. Die nicht übereinstimmenden sensorischen Informationen führen zu Konflikten zwischen dem vestibulären, optischen und propriozeptiven System. Ein typisches Beispiel ist das Lesen eines Buches während der Autofahrt: Die Augen senden Signale der Ruhe durch das Sitzen und die Lektüre, das Gleichgewichtsorgan hingegen meldet Erschütterungen durch die Fortbewegung. Das Gehirn ist überfordert, weil es die beiden divergierenden Informationen nicht zu einem passenden Bild zusammenfügen kann.
Kinder und Frauen häufiger betroffen
Als etwas überholt gilt inzwischen die Annahme, die Kinetose mit ihren typischen Symptomen Blässe, Schweißausbruch, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen samt einer erhöhten Konzentration des natürlichen Gewebehormons und Neurotransmitters Histamin im Bereich des Innenohrs und Gehirns werde durch eine Überstimulation des vestibulären Systems hervorgerufen, zu dem unser zentrales Gleichgewichtsorgan gehört – auch wenn sich Professor Thomas Jelinek, der Leiter des Berliner Centrums für Reise- und Tropenmedizin, gegenüber der „Apotheken-Umschau“ ein wenig in diesem Sinne geäußert hatte. Er machte eine Kommunikationsstörung im Gehirn für die Ausbildung der Reisekrankheit verantwortlich: Die dort ankommenden widersprüchlichen Informationen führten zu einer Überreizung, wobei die Bereiche des Gehirns, in denen die Informationen zusammenlaufen, recht nahe am Brechzentrum lägen.
Jüngst haben Wissenschaftler der Universität Barcelona unter Federführung von Pablo Machuca-Márquez nun erstmals die neuronalen Zusammenhänge erforscht, die für die Entstehung der Motion Sickness (MS) maßgeblich sein können, und ihre Ergebnisse im Fachmagazin „PNAS“ veröffentlicht:
„MS ist unter den Spezies hoch konserviert. Daher wurde (obwohl noch immer umstritten) postuliert, dass MS das Nebenprodukt eines evolutionären Mechanismus sein könnte, der als frühes Warnsystem für die Aufnahme von Toxinen fungiert und zu einem verminderten Stoffwechsel (Hypothermie und Schläfrigkeit), zur Ausscheidung des Toxins (Erbrechen) und zur künftigen Vermeidung der aufgenommenen Substanz führt. Es ist allgemein anerkannt, dass MS aus Konflikten zwischen tatsächlichen visuellen/vestibulären sensorischen Inputs und den erwarteten Bewegungs- und Körperpositionsinformationen auf Basis vergangener Erinnerungen entsteht.“ Weiterhin setzten die spanischen Wissenschaftler als bekannt voraus, dass verschiedene Teile des Gehirns, vor allem der Thalamus und die sogenannten Vestibulariskerne, die Sinneseindrücke von Ohren, Augen und Gliedmaßen verarbeiten und daher eine wesentliche Rolle bei der Reisekrankheit spielen. Dagegen war bislang weniger bekannt, welche Nervenzellen oder Neuronen dabei im Spiel sind.
Da von der Reisekrankheit nicht nur der Mensch betroffen ist, sondern diese auch im Tierreich bei vielen Säugetieren vorkommt, beispielsweise bei Hunden oder Katzen auftreten kann, haben die spanischen Forscher ihre Untersuchungen an Labormäusen durchgeführt. Sie sind davon ausgegangen, dass sich ihre dabei gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen.
Neben der Beobachtung der äußeren Symptome analysierten die Wissenschaftler aber auch, welche Mechanismen in den Gehirnen der Tiere bei einer ungewollten Karussellfahrt abliefen. Bei der Untersuchung konzentrierten sie sich auf die Vestibulariskerne des Gehirns, eine Gruppe von Nervenfasern im Hirnstamm, die Signale vom Ohr zum Gehirn übertragen.
Mittel gegen Magenprobleme
Es zeigte sich dabei, dass bestimmte Nervenzellen besonders aktiv waren, wenn die Mäuse typische Krankheitssymptome zeigten. Einige dieser Neuronen erzeugten das Protein VGLUT2. Um zu überprüfen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen der Reisekrankheit und diesem Neuronentypus geben könnte, blockierten die Wissenschaftler mittels chemischer Substanzen ganz gezielt diese Nervenzellen: mit dem Ergebnis, dass die meisten Symptome und Beschwerden verschwanden; nur die Körpertemperatur konnte nicht wieder korrigiert werden. In einem weiteren Experiment gelang es den Forschern durch Einsatz eines Lichtstrahls, diese speziellen, VGLUT2-exprimierenden Neuronen bei zuvor genetisch veränderten Mäusen zu aktivieren und dadurch ähnliche Symptome wie bei der Karussellfahrt auszulösen.
Da den Wissenschaftlern aufgefallen war, dass es in der Gruppe der VGLUT2-exprimierenden Neuronen auch noch Nervenzellen gab, die zusätzlich auch das Protein Cholecystokinin-A-Rezeptor (CCK-A-Rezeptor) exprimierten, und genau diese Untergruppe der CCK-A-Rezeptor enthaltenden Nervenzellen offenbar für die Ausbildung der meisten Verhaltensmuster der Reisekrankheit verantwortlich waren, wurden diese Neuronen nochmals dem gleichen Testprozedere unterzogen wie die VGLUT2-haltigen Nervenzellen. Die Wissenschaftler blockierten also einerseits die Zellen mit einer chemischen Substanz oder aktivierten sie im Gegentest durch Lichteinsatz. Dabei konnten wieder die Symptome der Reisekrankheit unterdrückt oder eben aktiv hervorgerufen werden.
„Die Mäuse, denen wir ein Medikament verabreicht hatten, das den CCK-A-Rezeptor blockiert, zeigten weniger Symptome der Reisekrankheit sowie eine geringere Aktivierung des parabrachialen Kerns“, so die Forscher. Daraus konnten sie den Schluss ziehen, dass die Untergruppe der CCK-A-Rezeptor-haltigen Neuronen mit an der Entstehung der Reisekrankheit beteiligt sein müsse, indem sie die Bewegungssignale an den sogenannten parabrachialen Nucleus im Gehirn weiterleiten.
Damit könnte sich eine neue Erklärung für die Entstehung der Reisekrankheit formulieren lassen: weil genau dieser parabrachiale Bereich des Gehirns dafür bekannt ist, an der Regulation des Appetits, der Müdigkeit, der Körpertemperatur oder des Geschmackssinns entscheidend beteiligt zu sein. Das Team um Pablo Machuca-Márquez hält es aber durchaus für möglich, dass künftig noch weitere neuronale Signalwege entdeckt werden können, die an der Entstehung der Reisekrankheit beteiligt sein könnten.
Die Forscher haben schon mal angeregt, die in der bisherigen Behandlungspraxis zur Vorbeugung der Reisekrankheit genutzten Medikamente zu überdenken. Medikamente, die genau die CCK-A-Rezeptoren blockieren, sind bereits in einer großen Zahl vorhanden, aber in der EU bislang nur zur Behandlung von Magenproblemen zugelassen. Ob sie auch als Mittel gegen die Reisekrankheit eine Zulassung erhalten werden, dürfte von weiteren Forschungen abhängen.