Ein internationales Forscherteam hat ein neues Modell für die Entstehung des Tinnitus präsentiert. Demnach lässt sich das typische Phantomgeräusch auf ein fehlerhaftes Zusammenspiel zweier verschiedener neuronaler Prozesse zurückführen.
Tinnitus ist ein weltweit sehr verbreitetes Phänomen, auch wenn die geschätzte Zahl der davon Betroffenen stark schwankt. Laut dem Bundesgesundheitsministerium sind hauptsächlich Personen ab dem 50. Lebensjahr betroffen. Laut Angaben der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) leiden in Deutschland rund drei Millionen Menschen an einem chronischen Tinnitus. Weltweit schätzt die FAU die Zahl der Tinnitus-Leidtragenden auf zwölf Prozent. „Etwa ein Sechstel der Bevölkerung westlicher Industrienationen leidet unter chronischem subjektivem Tinnitus, der allein in Deutschland volkswirtschaftliche Behandlungs- und Folgekosten von fast 22 Milliarden Euro pro Jahr verursacht“ und daher „in der Größenordnung der Kosten von Volkskrankheiten wie Diabetes“ liegt, so die FAU.
Drei Millionen in Deutschland
Die Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde beschreibt Tinnitus als „ein häufiges Symptom des auditorischen Systems, das insbesondere in Verbindung mit Komorbiditäten zu schwerwiegender Krankheitsbelastung führen kann“. Zudem sei chronischer Tinnitus „sehr häufig mit einer Störung des Hörvermögens vergesellschaftet“. Was die Entstehung des Tinnitus, sprich des subjektiven Tinnitus betrifft, so gibt es in der Forschung verschiedenste, wissenschaftlich recht kontrovers diskutierte Erklärungsmodelle: Man geht aus von einer grundlegenden Schädigung der Cochlea, dem Teil des Innenohrs, in dem die sogenannten Haarzellen die Schallwellen in elektrische Impulse umwandeln, die danach über den Hörnerv an das Gehirn zur Formung der Hörwahrnehmung weitergeleitet werden. Bislang sind die neurophysiologischen Mechanismen, die Tinnitus bedingen, nur relativ unzureichend erforscht.
Jüngst hat ein internationales Forschungsteam unter Federführung von Forschern der FAU, Dr. Achim Schilling und Dr. Patrick Krauss vom Neurowissenschaftlichen Labor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Uniklinikums Erlangen, ein hochinteressantes, im Fachmagazin „Brain“ publiziertes neues Erklärungsmodell zur Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus vorgelegt. Dabei sind die Erkenntnisse des Teams durch die Zusammenarbeit der Experimentellen Neurowissenschaften mit der sogenannten Computational Neuroscience (der mathematischen Modellierung von Bestandteilen des Nervensystems) und unter Einbeziehung von Prinzipien aus der KI-Forschung entstanden. „In unserem Ansatz kombinieren wir Künstliche Intelligenz, Kognitionsforschung und experimentelle Neurowissenschaften, um ein neues Modell der Phantomwahrnehmung zu entwickeln“, so die Forscher. Auf diese Weise konnten die FAU-Wissenschaftler gemeinsam mit Kollegen aus den USA, aus Kanada und Großbritannien das fehlerhafte Zusammenspiel zweier zentraler neuronaler Prozesse als Auslöser für die Tinnitus-Phantomwahrnehmungen identifizieren. Dieses beispielhafte Unternehmen, die Vorteile von KI und Hirnforschung zu vereinen, wurde auf einer internationalen Neurologie-Konferenz 2023 mit dem „Best Paper Award“ gewürdigt.

Der neue Erklärungsansatz, der auf den Namen Erlanger Modell getauft wurde und Tinnitus „als Nebenprodukt eines physiologischen Mechanismus, der dazu dient, das Hören kontinuierlich zu optimieren“ versteht, geht von der Prämisse aus, dass die Tinnitus-Entstehung „als Folge eines durch Hörverlust ausgelösten maladaptiven (schlecht angepassten, Anm. d. Red.) neurophysiologischen Prozesses im Gehirn“ auftritt und dass „es keine Tinnitusentstehung ohne zumindest geringfügigen Hörverlust geben“ kann; dass also ein Hörverlust, für den eine – sei es auch noch so geringe – Reduktion der sogenannten Innervation oder funktionellen Versorgung der inneren Haarzellen der Cochlea verantwortlich gemacht wird, der ursprüngliche Grund für das Auftreten eines Tinnitus sein muss.
Der erste von den Forschern ermittelte Prozess, der „prädiktive Codierung“ genannt wird, ermöglicht es dem Gehirn, eingehende Reize basierend auf früheren Erfahrungen oder abgespeichertem Wissen vorherzusagen, zu ergänzen und zu interpretieren. Dadurch kann das Gehirn beispielsweise nur undeutlich wahrgenommene Sätze oder Wörter von sich aus vervollständigen. „Doch bei einem Tinnitus irrt dieser prädiktive Optimierungsprozess des Gehirns“, so scinexx.de. „Gängigen Modellen zufolge interpretiert es dann ein Rauschen oder Pfeifen in unseren Höreindruck hinein, der gar nicht existiert.“ Der zweite Prozess, der als „adaptive stochastische Resonanz“ bezeichnet wird, steigert die Aktivität von Nervenzellen entlang der Hörbahn durch Hinzufügen von neuronalem Rauschen, um schwache Signale, beispielsweise leise Geräusche, besser wahrnehmen zu können. „Die Idee dahinter ist“, so die Forscher, „dass diese Addition eines unabhängigen Geräusches das Signal verstärkt und so über die Wahrnehmungsschwelle hebt.“ Es wird vermutet, dass dieses neuronale Rauschen sich deutlich verstärkt, wenn die Hörsinneszellen im Innenohr geschädigt sind und deshalb bestimmte Frequenzbereiche nicht mehr so gut wahrgenommen werden können.
Die Kombination dieser beiden Prozesse ist laut dem Erlanger Modell ursächlich für die Entstehung von Tinnitus. Die adaptive stochastische Resonanz erzeugt ein Verstärkerrauschen, das anschließend vom Gehirn im Rahmen der prädiktiven Codierung fälschlicherweise als realer Hörreiz oder realer Ton interpretiert wird, obwohl es sich eigentlich nur um ein Verstärkersignal handelt. Das Gehirn deutet also ein selbst erzeugtes Rauschen als echten, von außen kommenden Hörreiz. „Hierdurch lässt sich die Phantomwahrnehmung von Tönen beim Tinnitus erklären“, so die Forscher. „Das neue Modell erklärt auch, warum Tinnitus oft mit einer Überempfindlichkeit gegenüber leisen Tönen einhergeht, die als Hyperakusis bezeichnet wird: Das Gehirn verstärkt die schwachen Signale. Bislang stand die Wissenschaft hier vor einem Rätsel – der Zusammenhang von Tinnitus und Hyperakusis ließ sich bislang nicht durch andere Modelle erklären. Unsere Erkenntnisse erklären, wie neurale und mentale Aspekte der Wahrnehmung, der Kognition und des Verhaltens zur Entwicklung eines Tinnitus beitragen. Dies könnte nicht nur Strategien zur Behandlung oder zumindest Abschwächung des Tinnitus aufzeigen, sondern erhellt auch, wie die Hörwahrnehmung allgemein im Gehirn abläuft.“
Auf Grundlage ihres Erlanger Modells haben die Forscher der FAU bereits eine neue Strategie zur Behandlung von Tinnitus-Patienten entwickelt und auf den Namen „Low-Intensity Noise Tinnitus Suppression“ (LINTS) getauft. Die Behandlung basiert auf der Grundidee, das interne neuronale Rauschen, das eigentlich zur Verbesserung des Hörens mittels stochastischer Resonanz (SR) dient, aber bei Betroffenen als Tinnitus wahrgenommen wird, durch ein schwellennahes externes akustisches Rauschen zu ersetzen. „In diesem Fall“, so die FAU-Wissenschaftler, „würde das externe Rauschen das Hören über SR verbessern und es überflüssig machen, internes Rauschen aus dem somatosensorischen System beizumischen. Mehr noch, ist die optionale Amplitude und spektrale Zusammensetzung des externen Rauschens individuell für einen bestimmten Patienten erst einmal gefunden, würde der beschriebene Regelkreis das Rauschen aus dem somatosensorischen System sogar aktiv unterdrücken.“
Neue Strategien für Behandlung möglich
Bleibt abzuwarten, ob und wie schnell die Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde die LINTS in ihre Leitlinie als zentrale therapeutische Behandlungs-Option aufnehmen wird. Bislang empfiehlt sie im Wesentlichen nur das sogenannte Counselling, worunter die umfassende Aufklärung und Beratung des Betroffenen durch den Facharzt verstanden wird, psychotherapeutische Interventionen mit der kognitiven Verhaltenstherapie und deren Erweiterung durch eine akustische Stimulation namens Tinnitus-Retraining-Therapie sowie hörverbessernde Maßnahmen durch Hörsysteme. Dagegen hält sie andere häufig genannte Therapien wie die medikamentöse Behandlung des Tinnitus einschließlich der Verabreichung von Nahrungsergänzungsmitteln, Sound- und Musiktherapien oder Neuromodulationen durch Magnetstimulation oder elektrische Stimulation mangels evidentem Wirkungsnachweis für wenig sinnvoll.