In Den Haag produzieren die Urban Farmers Fisch und Gemüse auf Europas größter Dachfarm. Mit dem riesigen Gewächshaus möchte das Start-up-Unternehmen zeigen, wie sich Megacitys ohne Ackerland mit frischem Essen versorgen können.
Wer die Fischbecken sehen will, muss den Fahrstuhl nehmen. Neun Etagen saust der nach oben, vorbei an den Stockwerken, wo früher mal TV-Geräte für Philips produziert wurden. Mit einem kurzen „Ping" öffnet die Tür – und schon steht man in der Zukunft der urbanen Nahrungskette. Hier, auf dem Dach des ehemaligen Firmengebäudes des TV-Herstellers in einem Gewerbegebiet von Den Haag, zelebrieren die Urban Farmers eine kleine Revolution. Das Start-up-Unternehmen aus der Schweiz ist angetreten, die eigene Nahrungsmittelproduktion für überfüllte, zugepflasterte Megacitys zu lösen. Die Idee: Wenn in Zukunft immer weniger Ackerland vorhanden ist, dann muss die Farm eben auf die Dächer der Hochhäuser. Und deshalb drehen hier, hoch über der Stadt, Fische ihre Runden durch die Zuchtbecken, während Hunderte Tomaten in Reih und Glied ihrer Ernte entgegenwachsen.
Die Idee des sogenannten Vertical Farmings ist nicht neu, erste Konzepte dazu gibt es seit 1999. Aber wohl selten wurde sie in Europa in solchen Dimensionen und mit konsequentem Ertragsdenken umgesetzt wie hier in Den Haag. Auf einer Fläche von 12.000 Quadratmetern bewirtschaften die Urban Farmers Europas größte Dachfarm. Dahinter steht ein ausgeklügeltes Farm-Konzept, das das Schweizer Unternehmen in einer Art Franchise-System an Interessierte verkauft. Interesse zeigten die Stadtplaner von Den Haag, weil sie das Gewerbeviertel am Rande der Stadt vor dem Niedergang bewahren wollten. Nachdem dort viele Firmen Pleite gegangen waren, suchte die Stadt nach neuen Nutzungs-ideen für die alten Verwaltungsgebäude. Die Planer schrieben einen Wettbewerb aus und ließen sich von der Idee des Vertical Farmings überzeugen. So landete die riesige Farm auf einem Hochhausdach in Holland. Dem Land, das wohl die meiste Erfahrung mit Gewächshäusern hat. Nur sind diese auf dem Boden. Doch wie funktioniert Wachsen ohne Erdboden? Kann man so tatsächlich viele Menschen ernähren?
Die Fahrstuhltür schließt sich. Wenige Meter dahinter ist ein Eingang zu einem lichtdurchfluteten Café mit hellem Holz, einer kleinen Barista-Station, Tischen und einem Sofa. Ein grandioser Blick über die Stadt tut sich dahinter auf. „Wer will, kann hier einfach ein bisschen entspannen und unsere frischen, gesunden Produkte kaufen", sagt eine Mitarbeiterin an der Kasse. Schon an dieser Stelle zeigt sich der Geschäftssinn von Urban Farmers. Dieses Dach-Gewächshaus bietet nicht nur Führungen an, es ist gleichzeitig Café, lokaler Markt und sogar hippe Party-Location. Wer hier eine spinnerte Öko-Bewegung erwartet hat, wird eines Besseren belehrt. „Das Geschäftsmodell deckt das gesamte Spektrum von Design, Entwicklung, Betrieb und Verkauf der städtischen Farmen ab", heißt es auf der Unternehmensseite von Urban Farmers.
Führung ab 7,50 Euro
Alles, so zeigt sich auf dem Dach in Den Haag, folgt einem kalkulierten Konzept. Eines, das auch perfekt auf den Erlebnishunger der heutigen Generation ausgerichtet ist. Frische, unbehandelte Nahrung wird hier als sinnliches Statement verkauft, Ökologie mit moderner Designästhetik versehen und ein exklusiver Blick hinter die Kulissen der Dachfarm gewährt. Diese Führung ist natürlich nicht umsonst, ab 7,50 Euro pro Person ist man dabei. Und: Prospekte, die in Hotels der Umgebung ausliegen, empfehlen einen Besuch auf dieser ungewöhnlichen Dachfarm. Mit dieser modernen Mischung aus Event und Information generieren die Urban Farmers Aufmerksamkeit und zusätzliches Geld für ihr Business.
Eines, das nicht wenige Hürden überwinden muss. Denn Nahrung dort zu produzieren, wo es keinen Erdboden gibt, wo das Glas des Gewächshauses dem Wind in der Höhe trotzen muss und wo die Etagenwände die schweren Wassertanks tragen müssen, das sind nicht die leichtesten Voraussetzungen.
Wie diese ungewöhnliche Anbaumethode dennoch Erträge bringen kann, erleben Besucher bei einem Rundgang über die Dach-Farm. Im unteren Teil des Daches werden Fische der Sorte Tilapia gezüchtet, während ein Stockwerk darüber Gemüse und Kräuter unter einem mit starken Leuchten ausgestatteten Glasdach wachsen. Ermöglicht wird diese Nahrungsmittelproduktion durch einen ausgeklügelten Nährstoffkreislauf ohne Erde, der sich ergänzt, wenig Wasser und Nährstoffe verbraucht: das sogenannte Aquaponic. Stark vereinfacht nutzt man hierbei die Ausscheidungen der Fische, um damit die Pflanzen natürlich zu ernähren. Bakterien wandeln dabei die Fischausscheidungen in das für das Pflanzenwachstum wichtige Nitrat um. Die Wurzeln der Pflanzen wiederum filtern die für sie wichtigen Nährstoffe heraus. Das gefilterte Wasser wird wieder gesäubert in den Fischtank zurückgeführt. Bei jedem Zirkulationsprozess verdampft ein geringer Teil des im Kreislauf vorhandenen Wassers. Dies muss hin und wieder mit frischem Wasser aufgefüllt werden.
Bei dieser Art des Pflanzenwachstums ist lediglich etwa ein Zehntel des Wassers notwendig, das beim konventionellen Anbau im Erdreich erforderlich ist. Weitere Vorteile: Die geschlossenen Systeme machen Pestizide überflüssig, da keine Tiere und Unkräuter eindringen. Außerdem müssen die Farmer weniger Dünger für die Pflanzen einsetzen, was die natürlichen Gewässer schont. Das vielleicht größte Ass im Ärmel ist wohl die Tatsache, dass vertikale Farmen komplett unabhängig von Klima, Wetterschwankungen und Jahreszeiten sind. Damit können sie viele Ernten pro Jahr einfahren. Tatsächlich zeigt sich auf dem Rundgang über die Dachfarm, dass die Produktion auf Hochtouren läuft, fast täglich kann das Gemüse geerntet werden. Die anspruchslosen roten Tilapia-Fische werden nach sieben Monaten abgefischt, filetiert und einmal pro Woche zum Verkauf angeboten. Zwei Filetstücke kosten etwa fünf bis sechs Euro.
Das Modell funktioniert
Aber funktionieren diese höheren Preise eigentlich auf einem Lebensmittelmarkt, der die Verbraucher vor allem hierzulande mit extrem billiger Nahrung flutet? Ein NTV-Bericht sieht in dieser Produktionstechnik dennoch Potenzial für die Zukunft: „Die Marktforscher von Global Market Insights rechnen damit, dass auch aufgrund sich immer weiter verbessernder Technik der weltweite Umsatz mit vertikalen Farmen von zwei Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr auf mehr als 13 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024 anwachsen wird. Auch Googles Zukunftsstratege Ray Kurzweil prophezeite bereits vor drei Jahren, dass die 2020er-Jahre eine ‚Dekade der Revolution der vertikalen Landwirtschaft‘ werden könnten."
Die Vision von Urban Farmers ist, dass 20 Prozent des Essens direkt aus der Stadt kommen sollte. Sie sehen sich als Teil einer Bewegung, die an die Zukunft der Großstädte denkt. Denn die Weltbevölkerung wächst rapide, im Jahr 2060 werden etwa zehn Milliarden Menschen auf unserem Planten leben. Viele davon in den Megacitys Chinas, Afrikas und Indiens. Dort wird es aber immer weniger Platz für Grünflächen und Gemüseanbau geben. Lange Lieferwege sind die Folge. Verstopfte Straßen ebenso. Wolkenkratzer hätten dagegen Platz auf dem Dach, es wäre eine Alternative. Nach dem Motto: „Mein Mittagessen wächst 13 Etagen über mir."
Doch in der Realität sind die Herausforderungen für das Vertikal Farming zurzeit noch immens. „Um gebäude-integrierte Anbaukonzepte umzusetzen, bedarf es einer Vielzahl von Akteuren wie Agrarwissenschaftler, Stadtplaner, Architekten, Politik, Verwaltung, Unternehmer, Banken und vielen mehr sowie der Akzeptanz der Bevölkerung", geben Wissenschaftler des Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung in einem Papier zu Bedenken. Wie schwer es ist, ihre Vision umzusetzen, mussten auch die Unternehmer von Urban Farmers erleben. Laut einem Bericht der Schweizer Pendlerzeitung „20 Minuten" vom Juli 2017 sollen zwei große Dachfarm-Projekte in Zürich und Basel nicht zustande gekommen sein. Investition und Ertrag seien nicht wirtschaftlich, sagt eine Sprecherin für die Immobilienvermarktung. Außerdem sei die an sich qualitativ hochwertige Nahrung wegen ihrer Aquakultur-Anbaumethode nicht bio-zertifiziert.
Das fehlende Biolabel erschwert aber den Absatz der deutlich teureren Vertical-Farming-Produkte. Eine Anfrage bei Urban Farmers zu den gescheiterten Projekten in der Schweiz und zu der Bio-Zertifizierung blieb unbeantwortet.
In Den Haag scheint das Modell jedenfalls ganz gut zu funktionieren. Die Dachmärkte und Führungen sind gut besucht. Zahlreiche Restaurants aus der Stadt beziehen die frischen Produkte von der Dachfarm. Einen wirtschaftlichen Durchbruch gibt es hier aber auch noch nicht, gibt eine Mitarbeiterin auf der Führung zu. „Das hängt auch von den Verbrauchern ab. Sie müssen entscheiden, was ihnen gutes, frisches und unbehandeltes Essen wert ist."