Die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin hat nach etwas über zwei Jahren im Amt kaum noch Reserven. Die SPD mit dem Regierenden Bürgermeister an der Spitze verliert in Umfragen dramatisch. Kaum besser steht es um die oppositionelle CDU.
Die Berliner Landespolitik bietet derzeit ein trauriges Bild – und das erste Ziel für Angriffe und Spott ist der Regierende Bürgermeister selbst: „Blass" und „führungsschwach" sind Standardattribute, wenn es um Michael Müller geht. Hauptstadtzeitungen zählen genüsslich die jüngsten Fälle auf, in denen er sich gegen die Senatskollegen nicht durchsetzen konnte. Mehrfach schon wurden Staatssekretäre von den Senatoren, wie die Minister in Berlin heißen, gegen Müllers Willen entlassen. Die Koalitionspartner blockieren sich in schöner Regelmäßigkeit aus Rache, Beleidigtsein oder Erpressung. So verweigert Michael Müller seine Zustimmung zu einem Vorschlag der Linken in Sachen Stadtentwicklung und der Grünen bei der Entkriminalisierung des Schwarzfahrens, weil die Koalitionspartner einer Verschärfung des Polizeigesetzes nicht zustimmen wollen. Solche Spielchen, in denen man Verhandlungsmasse aufbaut, um „tauschen" zu können, gehören seit eh und je zum politischen Geschäft in Deutschland. Aber das Besondere an der Berliner Situation ist derzeit, dass diese Kämpfe öffentlich ausgetragen werden. Der Regierende Bürgermeister Müller spricht den Koalitionspartnern den gesunden Menschenverstand ab, gibt offen „Revanchefouls" zu und folgert einigermaßen konsequent: „So geht es nicht weiter." Wenigstens darin erhält er Zustimmung von allen Seiten. Das sei „der erste Weg zur Selbsterkenntnis", kommentiert Grünen-Chefin Antje Kapek. Linken-Chefin Katina Schubert ergänzt, was Müller aufführe, sei „unterirdisch" und passe eher zu einem Kindergarten.
Blockaden und Revanchefouls
Die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Regierenden Bürgermeisters Müller ist allerdings nur zum geringeren Teil durch seine Persönlichkeit zu erklären. Was Müllers Partei, die SPD, so nervös macht und an den Rand der Verzweiflung bringt, ist der katastrophale Absturz der Umfragewerte. Der ging auch nach dem miserablen Wahlergebnis 2016 weiter, als die Sozialdemokraten nur noch 21,6 Prozent holten. Damals reichte das dafür aus, dass Müller den Posten des Regierenden behalten konnte – aber nur, weil die beiden kleineren Partner so gut abgeschnitten hatten, dass es zusammen für eine Mehrheit genügte.
Aus welcher Höhe Müllers Partei momentan immer weiter nach unten saust, zeigt sich erst richtig im Rückblick auf das Jahr 1963. Es war zwar eine schwierige Zeit für (West-)Berlin, aber den Volkparteien ging es gut. Die CDU erreichte bei den ersten Wahlen zum Abgeordnetenhaus nach dem Mauerbau solide 28,8 Prozent; und praktisch der gesamte Rest, nämlich 61,9 Prozent, ging an die SPD mit ihrem populären Bürgermeister Willy Brandt. Für beide ehemals übermächtigen Parteien fing dann aber der Weg ins Off an – auch wenn die CDU 1990 in der Einheitseuphorie noch mal erstaunliche 49 Prozent erreichte. Heute scheinen das Zahlen aus einer anderen Welt zu sein.
Die aktuelle Sonntagsfrage für Berlin ergibt vier Parteien auf annähernd gleichem Niveau, allesamt unter 20 Prozent. CDU, Grüne und Linke liegen bei 19, die SPD sogar nur noch bei 16 Prozent. Man liest von „Selbstverzwergung", echte Volksparteien jedenfalls hat die größte deutsche Stadt nicht mehr.
Der Abstieg der SPD ist zwar der dramatischste Teil der Geschichte. Aber die CDU steht kaum besser da. Tatsächlich passiert in den beiden Ex-Volksparteien derzeit Ähnliches. Schwache Führungsfiguren, die sich gegen parteiinterne Widersacher gerade noch halten können (SPD-Chef und Berlins Regierender Bürgermeister Müller), oder eben nicht mehr (Noch-CDU-Landesschefin Monika Grütters): Grütters, Kulturstaatsministerin in der Bundesregierung, musste sich trotz Protektion aus der Bundes-CDU kürzlich im parteiinternen Machtkampf gegen Newcomer Kai Wegner geschlagen geben. Der Fraktionschef der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, Burkard Dregger, Sohn einer CDU-Legende der alten Bundesrepublik, sorgt unter Parteifreunden für Verzweiflung: Er hatte in einem Radiointerview die Ergebnisse eines Volksbegehrens zur Enteignung im Erfolgsfalle auch für die CDU als „bindend" bezeichnet, was er nachher nicht mehr so gesagt haben wollte. Die Schwäche der CDU ist eigentlich noch schlimmer als die der SPD, da sie als Oppositionspartei ein Bild des Chaos abgibt, und das bei einer schwachen Regierung. Das muss man erst mal schaffen.
Die Schwäche der einen ist nicht die Stärke der anderen
Müller hingegen hat die schwierige Aufgabe, einen Senat zu führen, der sehr unterschiedliche Gruppen repräsentiert. Oft ist darum der Vorwurf zu hören, der Senat betriebe „nur Klientelpolitik". Das aber ist auch nur die Folge dessen, was in der Stadtgesellschaft passiert: Immer deutlicher grenzen sich gesellschaftliche Gruppen mit ihren spezifischen Interessen voneinander ab. Radfahrer fordern vehement mehr Radwege, prekäre Mieter die Ausübung des kommunalen Vorkaufsrechts und die Enteignung der Wohnungsunternehmen, Lehrer fordern mehr Geld für Schulen, Eltern mehr Kitas. Hier ist es einfach schwer, eine gemeinsame Position zu formulieren.
Was den Zustand der Berliner SPD kaum entschuldigt: Dieser ist schlicht dramatisch. Dafür trägt der Landesvorsitzende Müller die größte, aber kaum die alleinige Verantwortung. Ihm wird vom Rivalen Raed Saleh das Leben schwer gemacht. Die Parteibasis stimmt auf einem Parteitag für ein „Werbeverbot" der Bundeswehr an den Schulen, was dieser einen plumpen Militarismus unterstellt und einige der Amtsträger entsetzt. Die Mehrheit will ebenso wie die SPD-Bildungssenatorin, dass Berlin wieder Lehrer verbeamtet, was seit 15 Jahren nicht mehr passiert, ist darin aber uneinig und vertagt den Beschluss. Was bleibt, ist, dass Berlin irgendetwas tun muss gegen die Abwanderung der Lehrer in andere Bundesländer, wo der Beamtenstatus lockt. Genauso unklar ist die Parteilinie bei der Frage der Enteignung von Wohnungsunternehmen. Hier gerät die SPD unter Druck der Linken, die die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen" unterstützt. Das wiederum sorgt bei Sozialdemokraten mit Regierungsverantwortung wie etwa Finanzsenator Matthias Kollatz für Kopfschütteln. Die SPD hat in Sachen Wohnungsbau das Pech, dass viele heute kritisierte Grundsatzentscheidungen von ihr vor Jahren selbst entschieden oder mindestens mitgetragen wurden: Neben Abriss und Verkauf von Wohnungen unter Rot-Rot ebenso die Ablehnung der Lehrerverbeamtung oder die Privatisierung der Wasserbetriebe. Und nun macht die Partei die gesellschaftliche Kehrtwende mit.
So bleibt Beobachtern erst einmal die Gedankenspielerei, wer dem glücklosen Müller einmal nachfolgen wird. In der Partei wird bereits darüber nachgedacht, ob man mit Franziska Giffey oder mit Innensenator Andreas Geisel mehr Chancen hätte. Ramona Pop, Wirtschaftssenatorin von den Grünen, macht sich jedenfalls Hoffnung, Müller nach der nächsten Wahl 2021 zu beerben. Die größte Chance hat sie.