In Berlin wird Obdachlosigkeit immer sichtbarer. Der Senat will die Wohnungslosigkeit bis 2030 beenden. Doch der schwierige Wohnungsmarkt heizt das Problem weiter an.
Möglicherweise hätte sie ihn vor der schlimmen Erfahrung, auf der Straße zu leben, bewahren können. Klaus Seilwinders Tochter verdiente gut und hätte ihn „finanztechnisch und vielleicht wohnungsmäßig unterstützen können“, sagt er im Gespräch mit FORUM. Doch der Wahl-Berliner landete auf der Straße. Die Scham, seine prekäre Lage der Tochter mitzuteilen, war zu groß: „Da hätte ich ja zugeben müssen, dass der Vater ein Loser und ganz unten ist.“ Von 2002 bis 2009 war der gelernte Chemiefacharbeiter in Berlin obdachlos. Er sammelte Flaschen, um das Geld zum Überleben zusammenzubekommen und kämpfte gleichzeitig gegen seine Alkoholsucht an.
Auch Dieter Bichler erging es ähnlich. Nachdem er seine Wohnung in Thüringen verloren hatte, strandete er im Herbst 2012 am Berliner Bahnhof Zoo. Ebenso wie Klaus Seilwinder konnte er sich nicht dazu durchringen, Familie oder Freunde um Hilfe zu bitten, als ihm die Wohnungslosigkeit drohte. Seinen Vater hätte er nicht fragen können, sagt er, denn der war über 80. Und Freunden wollte er nicht zur Last fallen: „Es sind ihre vier Wände, und wenn man einzieht, ist man immer ein Störfaktor.“ Innerhalb weniger Monate wurde das Leben auf der Straße für ihn lebensgefährlich. In einer Winternacht wurde er überfallen und zusammengeschlagen: „Ich hatte zwei angebrochene Kieferteile, mir wurden sieben Zähne aus dem Mund geschlagen und ich hatte 100 Platzwunden und Quetschungen“, erinnert sich Dieter Bichler. „Wären in dieser Nacht nicht zufällig zwei angetrunkene Partygäste vorbeigekommen und hätten den Rettungswagen gerufen, wäre ich wohl verblutet“, sagt er.
Gefahr, wohnungslos zu werden, nimmt zu
Dieter Bichler und Klaus Seilwinder haben die Gefahren auf der Straße überlebt und längst wieder ein Dach über dem Kopf. Die ehemaligen Obdachlosen machen ehrenamtliche Stadttouren für den Berliner Verein „Querstadtein“. Dort informieren die beiden Männer und andere ehemals Betroffene über Obdachlosigkeit und berichten von ihrem Leben auf der Straße. Ob am Maybachufer in Kreuzberg, in der Unterführung am S-Bahnhof Friedrichstraße oder vor Karstadt am Hermannplatz in Neukölln – an fast allen Ecken und Enden Berlins wird Obdachlosigkeit immer sichtbarer. Wer in der Stadt lebt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Armut und Obdachlosigkeit in Berlin zugenommen haben.
„Der äußerst prekäre Wohnungsmarkt hat nicht nur die Zahl der Wohnungssuchenden, sondern auch die der Obdachlosen stark steigen lassen“, heißt es in einem aktuellen Positionspapier mehrerer Sozialverbände und der Bezirksämter, das unter Federführung der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe entstanden ist. „Die Gefahr, wohnungslos zu werden, ist heute sehr viel größer“, heißt es dort weiter.
Doch genaue Zahlen gibt es nicht. Eine vom Berliner Senat durchgeführte Erhebung im Januar 2019 kommt auf circa 2.000 Menschen auf der Straße. Gleichzeitig weist man darauf hin, dass mit der Zählung eine „Vollerfassung“ methodisch nicht möglich gewesen sei, da nur die „sichtbar im öffentlich zugänglichen Raum lebenden Menschen“ an einem Stichtag erfasst werden können. Ältere Schätzungen gingen von bis zu 10.000 wohnungs- oder obdachlosen Menschen aus“, heißt es weiter. „Die Zählung war nur ein Ausschnitt eines kurzen Zeitslots von zwölf Stunden“, sagt der Sozialarbeiter Juri Schaffranek vom Verein „Gangway“. Der Verein macht Straßensozialarbeit in Berlin. Juri Schaffranek schätzt die Zahl der Obdachlosen in der Spreemetropole auf zwischen 5.000 und 7.000. Die verdeckten Obdachlosen, „Couchsurfer oder genau genommen die wohnungslosen Personen“, schätzt der Sozialarbeiter aber weitaus höher ein: „Sie liegen bei circa 50.000 in Berlin“, so Juri Schaffranek.
Die Ursachen von Obdachlosigkeit sind vielschichtig: Familiäre Zerwürfnisse, Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen oder Sucht können dafür sorgen, dass Menschen aus der Bahn geworfen werden. Für „Verwerfungen und neue Problemkonstellationen“ hätten trotz aller Vorteile auch „verstärkte Migrationsbewegungen, insbesondere die stetig gewachsene innereuropäische Arbeitsmigration“ gesorgt, heißt es im Positionspapier der Berliner Kältehilfe. „Die ‚Verlierer‘ dieser Entwicklung sind unter anderem wegen mangelnder Sprachkenntnisse, Unwissenheit über das Hilfesystem und nicht vorhandenem sozialen Umfeld besonders vulnerabel.“ Gleichzeitig seien sie oftmals mit Rahmenbedingungen diskriminierender Ungleichbehandlung und Rechtsausschluss konfrontiert.
Neue Gruppen hinzugekommen
Bund und Berliner Senat versuchen unterdessen, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Der Berliner „Masterplan“ wurde noch von dem vergangenen rot-grün-roten Senat unter Federführung der damaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) erarbeitet. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung ist das Vorhaben, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, weiterhin festgeschrieben.
Doch das, was der Berliner Senat bisher an Maßnahmen ergriffen hat, findet Gangway-Mitarbeiter Juri Schaffranek nicht ausreichend. Ein Kern- und Angelpunkt ist die allgemeine Wohnungsmisere in der Stadt. „Als unmittelbar umsetzbare Maßnahmen würden die Beschlagnahmung von zweckentfremdetem Wohnraum, sowie absichtlich leer stehenden Wohnungen zur Unterbringung von Obdachlosen taugen. Darüber hinaus könnten schnell und günstig zu erstellende Modularbauten – wie sie zum Beispiel für Geflüchtete schon errichtet worden sind – mittel- und langfristig für eine Entspannung der Obdachlosenproblematik führen.“ Auch müssten die Mietpreisentwicklung entschleunigt und Maßnahmen gegen die Gentrifizierung von gewachsenen Sozialräumen ergriffen werden, findet der Sozialarbeiter. „Wohnraum darf nicht als renditeorientiertes Spekulationsobjekt erlaubt sein.“