Auf Berlins Straßen sind immer mehr Radfahrer unterwegs. Trotzdem will der neue Verkehrssenat elf von 18 geplanten Radwegen nicht bauen. Weitere könnten hinzukommen. Das sorgt für Sprengkraft.
Der neue Berliner Verkehrssenat möchte es allen recht machen. „Die Berliner Straßen gehören Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern gleichermaßen. Kurzum – eine ausgewogene und bedarfsgerechte Verkehrsplanung ist die Grundlage eines vernünftigen und gerechten Miteinanders auf Berlins Straßen“, lässt Manja Schreiner (CDU), Senatorin für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt verlauten. Dennoch sind nicht alle Beteiligten gleichermaßen mit ihrem Vorgehen zufrieden. Denn aus der angekündigten Überprüfung der Radwege sind inzwischen Fakten geworden. Auf elf von 18 begutachteten Hauptstraßen, die fahrradfreundlicher werden sollten, werden nicht wie geplant Radwege entstehen. Dabei handelt es sich mitunter um bei Radfahrern unbeliebte Verkehrsrouten. Dazu zählen die Strecken Berliner Straße – Grunewaldstraße – Blissestraße – Bamberger Straße in Wilmersdorf und Hauptstraße – Dominicusstraße – Kleistpark in Schöneberg.
Fördergelder drohen zu verfallen
Das wird nicht alles sein, befürchtet Karl Grünberg, Pressesprecher vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC). „Unseres Wissens betrifft das 60 Radwege in Berlin. Von der Überprüfung halten wir nichts, denn diese Radwege sind seit Jahren geplant worden, mit Bürgerbeteiligungen, mit Stadtplanern, mit den Verkehrsverwaltungen. Sie sind in den Bezirksverordnetenversammlungen verabschiedet worden. Für sie wurden Fördergelder in Millionenhöhe aus dem Bund gewonnen. Diese Radwege müssen einfach nur noch gebaut werden.“
Die Radfahrer warteten seit Jahren auf diese Radwege, die an viel befahrenen und gefährlichen Hauptverkehrsstraßen für mehr Sicherheit sorgen würden. Beispielsweise in der Beusselstraße, einer der meistbefahrenen Straßen von Berlin, mit bis zu sechs Kfz-Spuren – aber überwiegend ohne Radweg. An der Siegfriedstraße müssten Radler sich eingequetscht zwischen Straßenbahnschienen, am Rand parkenden und dazwischen fahrenden Autos durchnavigieren. 2020 ist hier ein Radfahrer im Straßenverkehr getötet worden. „Mit jedem Tag, die diese überflüssige Überprüfung andauert, drohen die Fördergelder zu verfallen“, warnt Grünberg.
Auch Manja Schreiner hat eingeräumt, dass Fördergelder für mehrere pausierte Radwege-Projekte in Berlin verfallen könnten. „Wenn sich bestimmte Maßnahmen verzögern durch eine vertiefte Prüfung, die aber absolut notwendig ist aus verkehrssicherheitstechnischen Aspekten, dann ist es möglich, dass das ins nächste Jahr rutscht“, sagte sie gegenüber dem Sender RBB. Allerdings sei sie zuversichtlich, dass es auch im neuen Jahr Förderprogramme geben wird und „keine Mittel verlorengehen“, so Schreiner. „Qualität vor Schnelligkeit.“
Daran gibt es auf Bezirksebene aber Zweifel. „Diese Entscheidung bedeutet allein für Tempelhof-Schönenberg den Verfall von 1,5 Millionen Euro Fördergeldern des Bundes, welche in diesem Jahr in den Bezirk investiert werden sollten, so etwa Saskia Ellenbeck (Grüne), Verkehrsstadträtin des Bezirks.
Und es gibt weitere Kritik. Was die Hauptstraße in Schöneberg betrifft, wo die Verkehrssenatorin den Bau eines Radweges für nicht notwendig erachtet, kommt ein Forschungsteam der Technischen Universität Berlin dagegen zu einem ganz anderen Ergebnis.
Der Planungsstopp des Radweges ist für das Forschungsteam „nicht nachvollziehbar oder begründbar“. Das Wissenschaftsteam um Christine Ahrend (Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung) und Felix Creutzig (Fachgebiet Stadtökonomie) glaubt, der geplante und angeordnete Radweg würde die Verkehrssituation verbessern. Die Analyse der Wissenschaftler: Die meisten in der Planung vorgesehenen Änderungen seien als positiv „für die subjektive und objektive Sicherheit“ aller Verkehrsteilnehmenden zu bewerten. „Ein Großteil der Radfahrenden, die aufgrund der geringen subjektiven Sicherheit derzeit auf die Gehwege ausweichen, werden voraussichtlich den geschützten Radfahrstreifen nutzen“, heißt es in der Studie. „Dadurch wird das Konfliktpotenzial zwischen Fuß- und Radverkehr deutlich vermindert.“
Auch der Busverkehr der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) würde profitieren, da Radfahrer nicht mehr auf die Busspur ausweichen müssten. Eine Verbesserung würde auch durch die Einrichtung von Lieferzonen eintreten, „da regelwidriges Parken in zweiter Reihe auf Gehwegen oder in Einfahrten präventiv verhindert wird.“ Die Folge: schnellere Lieferzeiten und geringere Verkehrsrisiken.
Radaktivist Grünberg ergänzt: „Radwege tragen auch enorm zur Schulwegsicherheit bei. Kinder ab zehn Jahren müssen auf der Straße fahren. Wenn da kein geschützter Radweg ist, kann das sehr schnell gefährlich werden.“
Auch für Verkehrssenatorin Manja Schreiner steht nach eigener Aussage Verkehrssicherheit an erster Stelle. Allerdings beruhten ihre Entscheidungen nicht auf verkehrspolitischer Ideologie, im Fokus stünde allein die Verträglichkeit für alle Verkehrsteilnehmer. Damit spielt sie auf ihre Vorgängerin, die Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) an. Ihr Projekt, zumindest Teile der stark befahrenen Friedrichstraße für den Autoverkehr zu sperren, wurde von vielen Seiten kritisiert.
Planungsstopp nicht nachvollziehbar
Allerdings sollte sich die Diskussion nicht auf die eine oder andere möglicherweise fragwürdige Idee von Umweltschützern oder anderen Interessengruppen fokussieren, sondern der Tatsache Rechnung tragen, dass auf Deutschlands Straßen immer mehr Fahrräder unterwegs sind: Mit 82,8 Millionen Rädern verfügt statistisch gesehen fast jeder Mensch in Deutschland über ein Fahrrad oder E-Bike. Und die Bundesregierung hat in Lastenrädern das Potenzial für eine nachhaltige urbane Mobilität erkannt und vergibt Kaufprämien für Cargobikes mit und ohne Motor. Das entlastet den Verkehr und die Umwelt. Allerdings hält die Infrastruktur auf den Radwegen mit der rasenden Entwicklung des Radverkehrs nicht Schritt. Das Überholen auf den schmalen Radpisten wird zunehmend gefährlich.
Karl Grünberg vom ADFC hält vielmehr den Stopp der Radwege für ideologisch. Es dürfe nicht sein, dass Parkplätze über der Sicherheit von Menschenleben stünden. Der Radverkehr in Berlin habe enorm zugenommen. Gleichzeitig stünde Radfahrenden nur ein minimalster Raum auf der Straße zu. In Zahlen: 17 Prozent Radverkehr, 26 Prozent Autoverkehr. 30 Prozent aller Pendlerwege zur Arbeit, zur Schule oder Uni werden in Berlin mit dem Rad gemacht. „Dennoch stehen 60 Prozent der Straße für das Auto zur Verfügung, nur drei Prozent für das Fahrrad. Das ist das Ergebnis jahrelanger Autopolitik. Wir sind nicht gegen das Auto, wir wollen nur, dass der Straßenraum gerechter verteilt wird, zum Schutz von Radfahrenden und Fußgängern. Es gab im letzten Jahr zehn Fahrradtote, es gab 649 schwerverletzte und über 7.000 verletzte Radfahrende in Berlin. Geschützte Radwege erhöhten die Sicherheit von Radfahrenden enorm, da sie den Radverkehr vom Autoverkehr trennen.“
Nicht zuletzt profitiere auch der Autoverkehr von Radwegen. Je mehr Menschen das Fahrrad nutzten, um einkaufen zu fahren, um zur Arbeit zu fahren, zum Sport oder in die Schule, desto mehr Platz und Verkehrsfluss hätten diejenigen Autofahrer, die auf ihr Auto wirklich angewiesen sind.
Claudia Löffler, Sprecherin vom ADAC Berlin-Brandenburg, sieht die Situation differenziert. Sie befürwortet das Vorgehen der neuen Landesregierung, zunächst eine Bestandsaufnahme zu machen und dann zu entscheiden, was priorisiert werden muss. So sei es etwa sehr wichtig für Pendler und Schichtarbeiter, genügend Parkplätze zu haben. „Daraus abgeleitet können letztendlich wirksame Lösungen für alle Verkehrsteilnehmenden entwickelt werden. In der Vergangenheit hatten wir oft das Gegenteil: einen ideologisch motivierten Aktionismus und eine Politik, die eher Vorschriften machte, anstatt zu fragen, was sie anbieten kann.“
Dieser Ansatz habe sich nun positiv mit der neuen Landesregierung verändert – hin zu einer Politik, die allen Mobilitätsbedürfnissen und allen Verkehrsmitteln gleichermaßen gerecht werden will. Aber auch sie wird letztendlich liefern müssen. „Auf jeden Fall ein sehr komplexes Thema“, findet Claudia Löffler. Hierin dürften ausnahmsweise alle Mitstreiter d’accord gehen.