Hollywoodstar Bradley Cooper lässt in seinem Biopic „Maestro“ den amerikanischen Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein auferstehen – mit all seiner Leidenschaft und Liebe für die Musik, seine Ehefrau und junge Männer.
Am 14. November 1943 bekommt der 25-jährige Leonard Bernstein in aller Frühe einen Anruf, der sein Leben für immer verändern wird: Der Dirigent, der am Abend in der Carnegie Hall das New York Philharmonic Orchestra dirigieren soll, ist plötzlich erkrankt. Leonard Bernstein soll als Ersatz für ihn einspringen. Freudig sagt er zu. Das Konzert wird zu einem überwältigenden Erfolg. Es gibt minutenlange Standing Ovations und die „New York Times“ bringt eine hymnische Kritik des Konzerts auf der Titelseite. Der Anfang eines kometenhaften Aufstiegs.
Bradley Cooper begleitet Leonard Bernstein bei seinen triumphalen Erfolgen als Musiker mit großer Empathie, legt aber den eigentlichen Fokus von „Maestro“ auf Bernsteins komplizierte Ehe mit seiner Frau, Felicia Montealegre (fantastisch: Carey Mulligan). Sie ist dem Komponisten, unter anderem von „West Side Story“, dem genialen Dirigenten, der sein Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißt, ebenbürtig. Sie ist der Mittelpunkt seines Lebens, sein Anker, sein Schutzschild, seine Vertraute und die Mutter seiner drei Kinder. „Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie sehr du mich brauchst“, sagt sie – nur halb im Scherz.
Sicheres Gespür für den Zeitgeist
Die beiden lernen sich auf einer Party in den 40er-Jahren kennen. Sie unterhalten sich angeregt, lachen zusammen und flirten sich gegenseitig an. Schnell wird klar: Hier haben sich zwei Seelenverwandte gefunden. Doch ihre Zuneigung und Liebe wird bald überschattet von Bernsteins musikalischer Brillanz, seinem charismatischen Auftreten auf Konzertbühnen in aller Welt, auf glamourösen Partys, bei TV-Auftritten und bei Begegnungen mit seinen vielen Fans. „Du nimmst mir die Luft zum Atmen“, wirft Felicia ihm später vor. Und noch etwas belastet die Ehe sehr: Larrys Hang, mit jungen Männern ins Bett zu gehen. Seine Homosexualität lebt Bernstein lange Zeit unter dem Radar aus. Allerdings hat seine – inzwischen zum Teenager gereifte – Tochter Jamie (Maya Hawke) sehr wohl einen Verdacht. Sie hat Gerüchte gehört. Doch die tut ihr Vater als üble Nachrede ab, von Leuten, die ihn wegen seines großen Talents beneiden würden.
Bradley Cooper führt uns in seiner zweiten Regiearbeit, nach „A Star Is Born“, virtuos und stilsicher durch Leonard Bernsteins Leben. Und er beweist auch ein sicheres Gespür für den Zeitgeist. So sind die ersten 50 Minuten des Films in Schwarz-Weiß gehalten, was einen fast dokumentarischen Effekt hervorruft. Erst als der Film chronologisch die 70er-Jahre zeigt, wechselt er zur Farbe. Manche Szenen erscheinen dadurch wie Bilderbogen, die man aus Hochglanz-Magazinen wie „Life“, „Vogue“ oder „Vanity Fair“ kennt.
Natürlich spielt Bradley Cooper höchstpersönlich das kettenrauchende Musik-Genie, das ständig unter Strom zu stehen scheint. Er sieht Leonard Bernstein verblüffend ähnlich. Und das liegt ganz sicher nicht nur am kunstfertig aufgetragenen Make-up und der Nasenprothese – sondern vor allem daran, wie es Cooper gelingt, Bernsteins charakteristischen Nuschel-Schnellsprech-Duktus hinzubekommen, genau wie dessen warmherzige Art, auf Menschen zuzugehen und sie für sich einzunehmen. Ebenso intensiv verkörpert Cooper die fiebrig-überbordende Leidenschaft, mit der Bernstein dirigiert. Man sollte noch kurz erwähnen, dass Cooper wegen der Nasenprothese im Internet üblen Angriffen und dem Vorwurf des „Jewfacing“ ausgesetzt war. Aber selbst Bernsteins Kinder haben Cooper vor solchen im Namen der „Wokeness“ geäußerten Thesen in Schutz genommen und seine Performance gelobt.
Felicia erkrankt an Lungenkrebs
Bernsteins künstlerische Kreativität und seine Leidenschaft für die Musik scheinen aus derselben Quelle zu entspringen wie seine unstillbare Sehnsucht, von Menschen berührt zu werden – und die erotische Passion für junge Männer. „Ich liebe die Menschen, ich kann nur schwer alleine sein“, gibt er bei einem Gespräch mit einem Journalisten offen zu. Und auch, dass er oft depressive Phasen habe. Aber nicht nur er. Auch Felicia wird immer schwermütiger und will eigentlich aus der Beziehung aussteigen. An Thanksgiving kommt es in ihrer Wohnung am Central Park zum emotionalen Meltdown. Während draußen vor dem Fenster während der Festtags-Parade ein gigantischer Snoopy vorbeizieht, streiten sich die beiden bis aufs Messer. Eine atemberaubende Szene, die wie ein letztes Crescendo einer tragischen Ehe ausklingt. Sie trennen sich Mitte der 70er-Jahre. Leonard Bernstein kehrt erst wieder zu Felicia zurück, als 1977 bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert wird, und bleibt bis zu ihrem Tod an ihrer Seite.
In einem Interview gab Bradley Cooper kürzlich bekannt, dass er sich auf das Dirigieren sechs Jahre lang vorbereitet hat (siehe auch das Porträt auf Seite 88). Das Resultat kann man jetzt in „Maestro“ bestaunen. Wie er beim Dirigieren – in einem einzigen Take, live gefilmt – mit der Musik, dem Orchester, der Welt fast verschmilzt, ist allein schon die Eintrittskarte wert. Der Film beginnt in Moll und endet in Moll. Man sieht den 70-jährigen Leonard Bernstein am Klavier sitzend, natürlich rauchend, der einem TV-Team in die Kamera spricht: „Natürlich vermisse ich sie ganz fürchterlich!“ Jetzt weiß man, wen er meint. Bradley Cooper ist mit „Maestro“ eine außergewöhnliche Biopic-Symphonie gelungen, die noch lange im Herzen nachklingen wird.