Die märchenhafte Welt der Wachstumsraten und wo ihr Problem liegt
Im Gedenken an den großen Humoristen Loriot sei vorab gesagt: „Ein Leben ohne Statistik ist denkbar, aber sinnlos!“ Unser Leben wird von Statistiken bestimmt. Seitdem Menschen angefangen haben, Vorratshaltung zu betreiben, Tauschgeschäfte zu machen und zu Handeln, musste gezählt, gemessen, aufgezeichnet und verglichen werden. Das war die Stunde der Statistik – und die der Buchhalter.
Einfache Aufzeichnungen finden sich in Steinzeithöhlen, auf Steintafeln der alten Sumerer, an Pyramiden, in Gefängniszellen – oder in alten Studentenkneipen. Generationen von Buchhaltern gelang es mithilfe des Spezialwissens über die Anlage und Auswertung von Zahlenkolonnen, ihre Familien zu ernähren.
Ohne Zahlen und Statistiken wäre ein modernes Wirtschaftsleben undenkbar. Wirtschaftliche Erfolge oder Misserfolge – sei es die Veränderung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) einer Volkswirtschaft oder des Gewinns eines Unternehmens oder des Absatzes eines Autoherstellers – werden daran gemessen. Um wie viel die Messzahl gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres gestiegen (Erfolg) oder gefallen ist (Misserfolg). Wachstumsraten sind das A und O des modernen Menschen geworden.
Es hat sich im modernen Wirtschaftssprachgebrauch eingebürgert, dass die Größe der Veränderungsrate beziehungsweise Zuwachsrate zur eigentlichen Messlatte des Erfolgs oder Misserfolgs gemacht wurde – völlig losgelöst von der absoluten Größe des Veränderungsbetrages oder -volumens oder der Höhe der Vergleichsbasis, auf die sich die Veränderungsrate bezogen hat. Nicht das Veränderungsvolumen wurde zur Kennziffer des Erfolgs, sondern die Größe der Zuwachsrate selbst.
Und immer ging es um Wachstum, nie um Schrumpfung der Messgröße. Kurz: Wer als Politiker hohe Wachstumsraten des BIP oder als Unternehmer hohe Zuwachsraten bei den Gewinnen vorweisen konnte, war erfolgreich. Wer nicht, der eben nicht. Diese Denke fand sogar in Kinderbüchern Eingang: „Mehr, mehr sprach der kleine Havelmann…“ Und genau das führt in der Regel in die Irre – nicht immer, aber gelegentlich schon. Denn Wachstumsraten für sich genommen sagen im Grunde gar nichts aus.
Das Denken in Zuwachsraten ist im Prinzip hanebüchen, was aber im normalen Leben selten auffällt. Allerdings: Jetzt fällt sie auf und zwar in der neuesten Statistik des Kraftfahrzeug-Bundesamtes (KBA), in der die Entwicklung der Neuzulassungen von PKW mit alternativen Antrieben von Januar bis Oktober 2023 nach Marken aufgezeichnet, und das Ergebnis mit dem Volumen des vergleichbaren Vorjahreszeitraums verglichen wird. (siehe https://www.kba.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/AlternativeAntriebe/2023/)
Für Analysten und „Konsumenten“ von Zuwachsraten ein gefundenes Fressen, um Automarken ob ihres Erfolg oder Misserfolg zu bewerten. Legt man also die jüngste KBA-Statistik zugrunde, so war nach dieser Denke die Marke Rolls Royce am erfolgreichsten. Sie konnte den Absatz gegenüber dem Vergleichszeitraum 2022 um 1.200(!) Prozent steigern.
Ein Wahnsinnsgeschäft für den Autobauer BMW, zu dessen Marken-Portfolio die einstige Krone der britischen Automobilindustrie gehört – könnte man meinen. Doch weit gefehlt! Konnte Rolls Royce in 2022 zwei Elektrofahrzeuge verkaufen, so waren es in 2023 ganze 26 Einheiten.
Das Beispiel zeigt: Mit hohen Zuwachsraten einer Messgröße allein lassen sich weder Aktionäre abspeisen noch rund 100.000 Beschäftigte im BMW-Konzern entlohnen. Ähnliches gilt auch für das Bruttoinlandsprodukt als Messgröße. Das BIP kann nicht unendlich wachsen, kleiner werdende Wachstumsraten werden das neue Normal.
Fazit: Hohe Zuwachsraten sind ein wichtiger Indikator für wirtschaftlichen Erfolg, eine hinreichende Bedingung sind sie nicht. Auf das Vergleichsniveau – ist das groß oder klein – kommt es an.