Mit den legendären Maggi-Dosenravioli begann hierzulande 1958 der Siegeszug der hochverarbeiteten Lebensmittel. Spätestens ab den 1980er Jahren kam es zu einer Transformation der Ernährung in allen modernen Gesellschaften.
Laut Angaben der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie sind 80 bis 90 Prozent aller in Deutschland konsumierten Lebensmittel inzwischen industriell verarbeitete Produkte. Wovon ein beträchtlicher, aber bislang nicht exakt quantifizierter Anteil auf die hochverarbeiteten Lebensmittel oder Ultra-Processed Food (UPF) entfällt. Bei diesen handelt es sich um verzehrfertige Produkte, die durch die Kombination von lebensmittelbasierten oder synthetischen Zutaten in hochtechnisierten industriellen Prozessen hergestellt werden und die meist durch lange Haltbarkeit, ausgeprägten Geschmack, vergleichsweise wenig Nährstoffe sowie einen großen Anteil an Fett, Zucker und Salz geprägt sind. Trotz ihrer für den Organismus und die Figur wenig förderlichen Eigenschaften erfreuen sie sich in der modernen Gesellschaft stetig wachsender Beliebtheit, manche Forscher schreiben ihnen sogar ein Suchtpotenzial zu.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Marktforschungs-Unternehmens Appinio von Ende Oktober 2023 mit 2.001 Bundesbürgern im Alter zwischen 19 und 69 Jahren konsumieren 70 Prozent der Deutschen mindestens ein- bis dreimal pro Woche hochverarbeitete Lebensmittel. 36 Prozent der Befragten gaben an, diese sogar mindestens einmal pro Tag zu verzehren. Tiefkühlpizza am Montag, eine schnelle Tütensuppe am Dienstag, ein Schokoriegel am Mittwoch – so oder so ähnlich scheinen die wöchentlichen Ernährungsgewohnheiten vieler Bundesbürger abzulaufen. Obwohl diese dabei ein leicht schlechtes Gewissen haben, weil die Mehrheit (58 Prozent) unverarbeitete Lebensmittel für gesünder ansieht und fast ein Drittel (32 Prozent) sich nach deren Verzehr energiegeladener fühlt. Noch ein besseres Gefühl hatten 38 Prozent der Befragten nach dem Konsum natürlicher Lebensmittel, vor allem wenn es sich dabei um pflanzliche Produkte oder um Lebensmittel aus verantwortungsvollem Anbau gehandelt hatte.
Lebensmittel mit Suchtpotenzial
Trotzdem hatten 38 Prozent der Umfrage-Teilnehmer angegeben, dass sie in Stress-Situationen oder aus reiner Bequemlichkeit schon mal leicht zu hochverarbeiteten Lebensmitteln zu greifen pflegen. Dennoch achteten 57 Prozent der Befragten beim Einkauf von Lebensmitteln auf Zutaten oder Zusatzstoffe. Drei Viertel der Befragten hielten unverarbeitete Lebensmittel für gesund. Wobei für 76 Prozent der Befragten das Hauptkriterium für ‚unverarbeitet‘ das Nichtvorhandensein von Zusatzstoffen darstellte, wie es aus ihrer Sicht auf Obst, Gemüse, Eier, Fisch, Steak oder Hühnerbrust zutraf. 48 Prozent der Befragten ordneten auch wenig verarbeitete Lebensmittel wie getrocknete, geröstete, gefrorene, gekochte oder pasteurisierte Produkte der unverarbeiteten Kategorie zu. Das Fehlen von Konservierungsstoffen wurde von der Mehrheit (51 Prozent) als wesentliches Merkmal für natürliche Lebensmittel angesehen. Vor allem Millennials und Befragte mit höherem Bildungsniveau achteten beim Einkauf besonders genau auf Zutaten oder Zusatzstoffe. Nur zwei Prozent der Verbraucher konnten sich vorstellen, dass ein Produkt mit mehr als fünf Zutaten noch als natürlich angesehen werden kann. Ein Drittel hielt ein Produkt mit zwei bis drei Zutaten noch für natürlich. Laut einer von statista.com Ende 2022 veröffentlichten Umfrage zählen gefrorene, kochfertige Lebensmittel wie Pommes frites oder Fischstäbchen zu den beliebtesten Convenience-Produkten der Bundesbürger. 54 Prozent der Befragten gaben an, diese Lebensmittel regelmäßig zu essen. Laut statista.com lag der Umsatz für Fertiggerichte in Deutschland 2023 bei rund 8,2 Milliarden Euro.
Von einigen wenigen Ausnahmen wie Margarine oder kohlensäurehaltigen Soft-Drinks mal abgesehen tauchten UPFs in nennenswerter Zahl erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im Handel auf. Gegenwärtig tragen UPFs in Ländern mit hoher Einkommensstruktur wie Deutschland, Großbritannien, Kanada oder den USA mit etwa der Hälfte zur gesamten Energiezufuhr bei. Wobei der Anteil in den USA laut dem Global Food Research Program der University of North Carolina mit 59 Prozent am höchsten ist, gefolgt von Großbritannien mit 57 Prozent. Einer von fünf US-Amerikanern ernährt sich zu 80 Prozent von UPFs. Aber inzwischen sind die ernährungsphysiologisch häufig unausgewogenen UPFs auch in so ziemlich allen anderen Ländern der Erde deutlich auf dem Vormarsch. Wobei der vergleichsweise günstige Preis der hochverarbeiteten Lebensmittel, weltweit steigende Einkommen, zunehmende Urbanisierung, Zeitersparnis durch Wegfall der Kocharbeit vor dem Konsum, mangelnde Kocherfahrung oder die Bequemlichkeit berufstätiger Eltern als ursächliche Faktoren angesehen werden können. Zeitgleich mit der Ausbreitung der UPFs ging in den modernen Zivilgesellschaften die körperliche Aktivität zurück. Weshalb in vielen Beobachtungsstudien ein (allerdings noch nicht kausaler) Zusammenhang zwischen dem Verzehr von UPFs und dem Entstehen von Adipositas oder ernährungsbedingten chronischen Krankheiten aufgezeigt werden konnte.
Die elementaren Grundlagen für die Industrialisierung der Lebensmittel reichen schon weit in die Vergangenheit zurück. Beginnend Es beginnt mit der ersten Konservierungstechnik zur Haltbarmachung von Lebensmitteln im Glas, die der Pariser Zuckerbäcker Nicolas Appert im Jahr Jahr 1804 erfand. Diese Technik wurde 1864 mit der Pasteurisierung weiterentwickelt und das 1892 erfundenen „Einwecken“ mit Gummiring zum Paradebeispiel überhaupt. Als nächster Schritt im Zuge der wachsenden Automatisierung erfolgte das Konzentrieren und Verändern von Nahrungsmittels.
Zuckerbäcker erfand Konservierung
Das vom deutschen Chemiker Justus Liebig ab 1862 vertriebene „Liebig’s Fleischextrakt“ war eines der ersten Fertigprodukte, das vor allem als Würzmittel und als Grundlage für Saucen verwendet wurde. Liebigs Suppe für Säuglinge sollte dem Apotheker Henri Nestlé als Vorlage für seinen 1867 vorgestellten Babybrei dienen, der durch Wasserzugabe aus einem Pulver aus Brot, Trockenmilch und Zucker angerührt werden konnte. Carl Heinrich Knorr legte 1873 mit seinen aus gewürzten Mehlen sowie getrocknetem Gemüsen wie z.B. Linsen, Erbsen oder Bohnen zusammengesetzten Suppen die Grundlage für alle späteren Fertigsuppen. Genauso bekannt (und sogar bis Ende 2018 hergestellt) sollte Knorrs Erbswurst aus Erbsenmehl, Speck und Gewürzen werden. Sie war eigentlich eine Erfindung des Berliner Konservenfabrikanten Heinrich Grünberg aus dem Jahr 1867, der das Patent aber 1889 an Knorr abgetreten hatte. Der Schweizer Julius Maggi wollte 1887 in seiner badischen Niederlassung in Singen eigentlich eine auf dem Mehl von Hülsenfrüchten basierende, eiweißreiche Suppe in großem Stil produzieren. Die aber hatte niemandem gemundet, worauf er die Maggi-Würze erfand.
Während in Deutschland die Kühlung von Lebensmitteln noch lange ein Problem blieb, da der Kühlschrank erst nach dem Zweiten Weltkrieg Standard in den meisten Haushalten werden sollte, wurden in den USA bereits 1930 erste tiefgekühlte Lebensmittel im Handel angeboten. Nach Deutschland kam die Tiefkühlkost erst 1955 und hat sich im Laufe der Zeit von Grundprodukten wie Fischfilet oder Gemüse zu jenen tiefgekühlten Fertiggerichten weiterentwickelt, die in der Verbrauchergunst heute ganz oben stehen. Die erste Tiefkühlpizza etwa, eine „Pizza alla Romana“ für damals stolze drei D-Mark, sollte Dr. Oetker 1970 lancieren. Heute verspeist jeder Bundesbürger im Schnitt 13 Stück pro Jahr. Die Firma C.A. Swanson & Sons brachte 1953 mit dem „TV Dinner“ das erste im Supermarkt erhältliche komplette Fertiggericht auf den US-Markt. Dieses wurde schon im ersten Jahr ein Millionenseller.
Jahrzehntelang keine Kennzeichnungen
Das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland lässt sich kulinarisch an den ersten Dosen-Eierravioli in Tomatensauce festmachen, die am 14. Mai 1958 im Maggi-Werk in Singen am Bodensee vom Band gelaufen sind und eine kleine Revolution in der heimischen Küche sowie der Gesellschaft auslösen sollten. Dieses Fertiggericht eröffnete Frauen die Möglichkeit, nicht mehr stundenlang am Herd stehen zu müssen, sondern ihrer Familie schnell eine warme Mahlzeit zuzubereiten, ohne darauf zu viel Zeit zu verschwenden. Die Ravioli waren dabei natürlich nur der Startschuss, gefolgt von anderen Fertiggerichten wie den legendären Mirácoli, Spaghetti in Tomatensauce, 1961, Kartoffelpüree aus der Tüte 1968 oder Semmelknödeln im Kochbeutel 1969. Doch so richtig Fahrt nahm der Siegeszug der UPFs, die damals natürlich noch nicht diesen Namen trugen, mit der Entdeckung des Food Designs mit zum Kauf animierenden Verpackungen und der Beigabe tausender künstlicher Geschmacksverstärker, Emulgatoren, Aroma-, Farb- und Konservierungsstoffen durch die Lebensmittelindustrie auf. Wobei die 1980er-Jahre dank ständig neuer Fortschritte in der Lebensmittelwissenschaft und -technologie den Durchbruch bringen sollten. Was letztlich zu einer fast vollständigen Transformation der menschlichen Ernährung führte – weg von traditionell selbst gekochten Mahlzeiten auf Basis minimal verarbeiteter Lebensmittel, hin zu einer Verpflegung mit einem erheblichen Anteil von Mahlzeiten, die außer Haus industriell mit verarbeiteten oder gar hochverarbeiteten Lebensmitteln hergestellt werden.
Was jahrzehntelang weitgehend unbemerkt geblieben war. Die Lebensmittel wurden weiterhin nur nach Gruppen (wie Obst oder Fleisch/Wurst) oder nach Nährstoffgehalten (wie fettarme oder proteinreiche Lebensmittel) klassifiziert. Der gewandelten Lebensmittelverarbeitung wurde keine nennenswerte Aufmerksamkeit geschenkt. Das sollte sich erst durch die Arbeiten des brasilianischen Ernährungswissenschaftlers Prof. Carlos Augusto Monteiro ändern, der als Erklärung für den sprunghaften Anstieg der Fettleibigkeit bei den jungen brasilianischen Erwachsenen einen Zusammenhang mit dem verstärkten Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel vermutete. Im Mai 2009 veröffentlichte Prof. Monteiro im Fachmagazin „Public Health Nutrition“ seine revolutionäre These und führte dabei erstmals auch den Begriff der „Ultra-processed products“ ein: „Der wichtigste ernährungsbezogene Treiber der Pandemie des Übergewichts und der Fettleibigkeit sowie der damit verbundenen, chronischen nicht-übertragbaren Krankheiten ist das, was wir als übermäßig verarbeitete Produkte bezeichnen (Ulta-Processed Products). Diese sind zwar essbar und in der Regel sehr schmackhaft, aber es handelt sich dabei nicht um echte Lebensmittel.“
Basierend auf dieser These entwickelte Prof. Monteiro eine neue Klassifizierung der Lebensmittel nach ihrem Grad der Verarbeitung. Auch die Weltgesundheitsorganisation FAO sollte seit 2015 eine Berücksichtigung von Informationen über die Art und den Grad der Verarbeitung von Lebensmitteln empfehlen. Die NOVA-Klassifikation wurde erstmals 2010 veröffentlicht und seitdem regelmäßig aktualisiert (zuletzt 2019). Damit wurde die Zielsetzung verfolgt, durch eine Klassifizierung der Lebensmittel nach dem Verarbeitungsgrad ein standardisiertes Modell zur Bewertung der Zusammenhänge zwischen dem Verzehr (insbesondere stark) verarbeiteter Lebensmittel und dem Risiko ernährungsbedingter Krankheiten zu entwickeln. Neben NOVA gibt es inzwischen laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung noch mindestens fünf weitere, ähnlich strukturierte Klassifizierungssysteme, von denen laut der Gesellschaft die 2018 von französischen Wissenschaftlern erarbeitete SIGA-Klassifizierung das größte Potential hat, „den Einfluss von Verarbeitungsverfahren und Nährstoffzusammensetzung auf die menschliche Gesundheit getrennt voneinander bewerten zu können.“ Allerdings wurde SIGA bislang, da relativ neu, bei Ernährungsstudien noch nicht berücksichtigt. Alle bislang veröffentlichten Untersuchungen haben daher Bezug zu NOVA genommen, das ebenso wie SIGA ausschließlich zur Klassifizierung industriell verarbeiteter Lebensmittel erstellt wurde.
NOVA-Klassifikation und SIGA-System
NOVA gruppiert alle industriell verarbeiteten Lebensmittel in insgesamt vier Kategorien: I nicht/wenig verarbeitet, II verarbeitete haushaltsübliche Zutaten, III verarbeitet, IV stark verarbeitet. Lebensmittel der Kategorie I und III gelten bei NOVA als ernährungsphysiologisch ausgewogen, können jedoch bei übermäßigem Gebrauch von Zutaten der Kategorie II engergiedicht und damit gesundheitsabträglich werden. Lebensmittel der Kategorie IV, zu deren Herstellung mehrere industrielle Verfahren erforderlich sind und die direkt oder nach kurzer Vorbereitung verzehrfertig sind, werden generell als ernährungsphysiologisch unausgewogen beschrieben. Zur NOVA-Klassifizierung hat die Weltgesundheitsorganisation FAO 2019 einen Report herausgegeben, ohne dieses System ausdrücklich zu empfehlen. Das SIGA-System legt dem NOVA-System vergleichbare Klassifizierungskriterien zugrunde (gleiche vier Basiskategorien), berücksichtigt darüber hinaus aber auch noch weitere Aspekte wie Nährstoffzusammensetzung oder Art und Menge der verwendeten Zutaten und Zusatzstoffe. Es kann daher als eine sinnvolle Weiterentwicklung des NOVA-System angesehen werden.